05.01.2022 14:27

Folge 1: Das Mögliche im Wirklichen. Grundlegungen

Es gibt Worte, die kommen ganz unscheinbar daher. Wörtchen eben. Zu ihnen zählen „möglich“ und „wirklich“. Verniedlichungen sollten hellhörig werden lassen, oftmals verschleiern sie die mit ihnen verbundene Sprengkraft. Manchmal mag es deswegen angemessen sein, sie bis in die Antike zurückzuverfolgen.

Wie sehr wir doch alle Aristoteles reden, ohne es zu wissen (Adorno)

Eine maßgebliche und bis heute wirksame Prägung erlangten die Worte „möglich“ und „wirklich“ im antiken Griechenland – und zwar in einer für die philosophische Tradition typischen Transformation. Aus den kleinen Adjektiven wurden große Substantive: Dynamis und Energeia, zu Deutsch: Möglichkeit und Wirklichkeit. Diese Verbegrifflichung einer alltäglichen Unterscheidung lässt uns einerseits die damit assoziierten Vorstellungen deutlicher zutage treten, deckt andererseits aber auch die Fallstricke auf. Die begrifflichen Studien von Aristoteles zu „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ konnten sich in der abendländischen Philosophie etablieren; bis heute gibt es kaum theoretische Kunstgriffe rund um diese Grundbegriffe, die sich nicht auf die aristotelische Konzeption – sei es ablehnend, sei es affirmativ – beziehen. Aristoteles zu ignorieren, fällt auch deswegen schwer, weil er diese Begriffe so auslegt, dass sie mit vielen heutigen Alltagsontologien immer noch harmonieren. 

Möglich wird etwas gemäß oder aufgrund von Vermögen genannt (Aristoteles)

Die Koppelung von Dynamis und Energeia vollzieht sich im Reich der Dinge, weswegen von „realer“ Möglichkeit auch nur dann die Rede ist, wenn sie sich an etwas Wirklichem festmachen lässt. Möglichkeiten gibt es in der Wirklichkeit, oder besser gesagt: in je spezifischen Wirkungszusammenhängen. Nur an ihnen tritt das Mögliche verstanden als etwas hervor, das ist und wirklich werden kann. Wird es wirklich, so hat eine Veränderung des jeweiligen Wirkungszusammenhangs stattgefunden.
Die Vorstellung von Möglichkeit ist mit Potentialität verbunden: Möglich ist etwas aufgrund von Vermögen. Vermögen schlummern im Einzelnen, in menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Kollektiven. Vermögen sind zumeist zusammengesetzt aus individuellen oder sozialen Fähigkeiten, institutionell garantierten und begrenzten Handlungsräumen in natürlichen Lebensbedingungen. Vermögen sind geprägt durch Ressourcen wie Luft und Wasser, klimatische Bedingungen, rechtliche, politische und ökonomische Verhältnisse. Sie lassen sich nur in Teilen einer bestimmten Sache zuordnen oder dementsprechend verdinglichen. Weiterhin sind Vermögen raum- und zeitgebunden.

Das Mögliche ist definiert, als das, was kontingent ist

Wirkzusammenhänge, in denen Möglichkeiten schlummern, sind veränderbar – und zwar in dem Sinne, dass das, was werden kann, nicht notwendigerweise wirklich werden wird. Das, was anders sein kann, aber nicht anders werden muss, ist kontingent. Die Idee der Kontingenz, die Vorstellung des Anderseinkönnens, wird somit – neben der Idee des Vermögens – zum zweiten klassischen Element des Begriffs der Möglichkeit. 

Werden und Vergehen

Eine so verstandene Wirklichkeit ist nichts Abgeschlossenes, sondern in Veränderung begriffen. Das Mögliche kommt nicht einfach (von außen) hinzu, sondern es ist selbst Teil dieses Wirkzusammenhangs. Diese Vorstellung von Wirklichkeit und Möglichkeit fußt auf banal erscheinenden Alltagserfahrungen. Tatsächlich sind sie aber basal: Wir erleben tagein und tagaus, wie das, was wir „Welt“ nennen, in permanenter Bewegung ist. Das, was ist, ist geworden und wird vergehen. Wie jede Pflanze aus dem Samen hervorgeht, reift und verwelkt, so ist es eigentlich mit allem, was uns umgibt, was wir erfahren und was wir begrifflich zu ordnen versuchen. Heute lässt sich sagen: Selbst das Universum ist nicht ewig, muss entstanden sein und wird sich – wann und wie auch immer – „auflösen“. Die Spanne, die durch das Begriffspaar Wirklichkeit-Möglichkeit erschlossen werden kann, befindet sich dazwischen: Zwischen Urknall und Ende.